Aufbruch in eine fremde Welt
Blog von Felix Brentrup
Teil 1: Lalibela – das neue Jerusalem im äthiopischen Hochland
Als ich mir im Frühling des letzten Jahres die Frage stellen musste, was ich nach der Matur machen würde, war mir die Antwort relativ schnell klar. Ich wollte vor einem Studium zunächst als Volontär arbeiten, und zwar in Afrika. Wie ich zu dieser Entscheidung kam, ist mir immer noch nicht ganz bewusst. Vermutlich war es eine Mischung aus Interesse für andere Kulturen, Fernweh, Abenteuerlust und etwas Idealismus. Nachdem ich dann tatsächlich das Maturzeugnis in den Händen hielt, machte ich mich auf die Suche nach einer passenden Stelle bei einer geeigneten Organisation. Ich tat mich schwer. Eine Stelle, die sowohl meinen Vorstellungen entsprach, als auch deren Anforderung ich erfüllen konnte, war schlichtweg nicht zu finden. Ich war kurz davor aufzugeben, als ich, wie es der Zufall so wollte, auf Peter Bachmann und seine Stiftung stiess. Ich schrieb ihn daraufhin an, und so trafen wir uns Ende September zum ersten Mal. Wir konnten uns schnell darauf einigen, dass ich für seine Stiftung einige Monate Äthiopien und Kenia bereisen würde. Die erste Station sollte Lalibela heissen, eine Kleinstadt im nordäthiopischen Hochland.
Zwei Monate später stieg ich in Zürich in ein Flugzeug und landete 13 Stunden später in einer anderen Welt. Die Fahrt vom Flughafen in die Stadt fühlte sich an wie im Film. Die Strasse ist abgesehen von einigen wenigen schlecht asphaltierten Abschnitten eine Staubpiste voller Schlaglöcher. Neben den Minibussen der Hotels und den Tucktucks, die sich hier in den letzten 5 Jahren verbreitet haben, nutzen sie in erster Linie die vielen Bauern, die ihre Schafe, Ziegen und Esel zur nächsten grünen Stelle treiben. Die Strasse ist gesäumt von trockenen Feldern, auf denen hin und wieder winzige Lehmhütten mit Strohdach stehen. Diese sogenannten Tukuls sind die traditionellen Wohnhäuser, die bis heute auch mitten in der Stadt zu finden sind.
Lalibela, eine auf über 2500m hochgelegene Stadt, berühmt für ihre Felsenkirchen, hiess früher Roha. Sie wurde später nach dem Erbauer des Grossteils der Felsenkirchen, König Lalibela (ca. 1185-1225 n.Chr.) umbenannt. Nachdem Jerusalem von muslimischen Herrschern erobert worden war, wollte dieser aus seiner Heimatstadt Roha ein neues Jerusalem machen. Selbst der Fluss durch Lalibela, der abgesehen von der Regenzeit eher ein Bach ist, heisst Jordan, nach dem Fluss in dem Jesus von Johannes dem Täufer getauft wurde. Bis heute ist Lalibela eine der heiligsten Städte und wichtigsten Pilgerorte der äthiopisch orthodoxen Christenheit.
Selbstverständlich locken die Felsenkirchen auch ausländische Touristen an. Aus diesem Grund gibt es in dieser Stadt mit gerade einmal 40‘000 Einwohnern mehr als 30 Hotels – allesamt völlig unbezahlbar für einheimische Pilger. Die Hotels sind Inseln des Wohlstandes in dieser ansonsten so bitterarmen Stadt. Hier gibt es keine Industrie, keinen Handel. Die einzige Möglichkeit Geld zu verdienen ist Tourismus und der ist um 98% eingebrochen, aufgrund von politischer Unruhe und bewaffneten Konflikten in Nachbarländern. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass es mich, der noch nie zuvor absolute Armut gesehen hat, nicht betroffen machte. Egal wo man hinschaut, man sieht sie. Zehnköpfige Familien leben in winzigen Häusern ohne Strom und fliessendes Wasser, laufen mit zerrissenen Kleidern und kaputten Schuhen herum und würden verhungern, gäbe es hier keine Hilfsorganisationen wie zum Beispiel Plan International oder eben auch die Peter Bachmann Foundation (PBF).
PBF spielt in Lalibela eine ganz besondere Rolle. Vor mittlerweile 12 Jahren kam der Gründer der Stiftung, Peter Bachmann, zum ersten Mal nach Lalibela. Kurz darauf wurde das erste Projekt in Angriff genommen. Mittlerweile sind es mehr als 60, von Stipendien, über Arbeit für Alte bis hin zur Schaffung von Arbeitsplätzen durch Unterstützung beim Aufbau von Kleinunternehmen. Peter Bachmann selber ist hier zu Berühmtheit gekommen. Für die Einwohner Lalibelas sind er und seine Stiftung oftmals die letzte Hoffnung auf ein besseres Leben. Als Peter Bachmann im Januar zu mir nach Lalibela gestossen ist, herrschte absoluter Ausnahmezustand. Innerhalb von wenigen Tagen hat sich seine Anwesenheit in der ganzen Stadt herumgesprochen. Mehr als hundert Bedürftige, darunter etliche Kranke, Alte und Blinde, haben das PBF-Büro, teilweise ununterbrochen für einige Tage und Nächte belagert, nur um einmal mit ihm sprechen zu können, in der Hoffnung, dass er ihr Problem lösen kann.
Vor einiger Zeit wurde ich gefragt, ob ich es jemals bereut hätte hier hin zu kommen. Ich konnte es ohne zu lügen verneinen. Klar- es ist nicht alles perfekt. So ist das Essen zum Beispiel eher gewöhnungsbedürftig und selbstverständlich vermiss ich hin und wieder mein Zuhause in der Schweiz, jedoch überwiegen die guten Seiten deutlich. Egal wo man sich in Lalibela befindet, man hat immer einen wunderbaren Ausblick auf die schönen umliegenden Berge und Täler.
Klimatisch ist es mit gut 20 Grad bei sehr geringer Luftfeuchte auch sehr angenehm aber vor allem habe ich mich dank der unglaublichen Gastfreundschaft und Warmherzigkeit der Menschen immer sehr wohl gefühlt. Innerhalb kurzer Zeit hab ich mich mit einigen Leuten angefreundet, so dass ich mich zu keinem Zeitpunkt alleine fühlen musste. So befürchteten z.B. meine Freunde hier, dass ich mich an Heiligabend einsam fühlen würde und haben kurzerhand eine kleine „Überaschungsparty“ für mich veranstaltet, und das, obwohl sie Weihnachten erst am 8. Januar feiern.
Das äthiopische Weihnachtsfest, hier Genna genannt, ist in Lalibela ein ganz besonderes Spektakel. Wie schon erwähnt, ist Lalibela eine der wichtigsten Pilgerstädten der äthiopisch orthodoxen Christenheit. Nach Schätzungen der Regierung sind dieses Jahr ca. 200‘000 Pilger aus dem ganzen Land in diese nicht wirklich grosse Stadt im Äthiopischen Hochland geströmt. Auf jeden Einwohnen kommen 5 Pilger. Es ist einfach unglaublich zu sehen, wie viele Menschen diese kleine Stadt bevölkern. Überall sieht man Pilger in ihren traditionellen weissen Gewändern. Ein Teil kommt in überfüllten Bussen oder auf Ladeflächen von Lastwagen. Der grosse Teil, der sich solche Transportmittel nicht leisten kann, kommt jedoch zu Fuss. Sie haben mitunter wochenlange beschwerliche Märsche hinter sich, bevor sie in Neu-Jerusalem – wie Lalibela auch genannt wird – ankommen. Sie weilen hier zwei bis drei Tage und feiern Genna. Den Vorweihnachtsabend sowie den Weihnachtsmorgen verbringen sie in den Kirchen, wo über Stunden Gottesdienst gehalten wird. Daraufhin feiern sie mit ihren Familie und Freunden, trinken Tella, eine äthiopische Bierspezialität, singen und tanzen.
Zu Genna organisieren sich regelmässig Jugendliche – darunter auch etliche PBF-Mitglieder – zu Gruppen, die die vielen Pilger nach ihrer langen Reise in Empfang nehmen. Sie waschen und pflegen ihnen die wunden Füsse und versorgen sie mit Wasser und Nahrung. Manche bieten einigen Pilgern sogar einen Schlafplatz im eigenen Zuhause an.
Leider ist jedoch nicht alles so weihnachtlich, wie es im ersten Moment scheint. Mit Knüppeln und Kalaschnikows bewaffnet patrouillieren Militär und Polizei durch die Stadt. Das ist neu. Die Gründe dafür liegen jedoch auf der Hand: Nach den Protesten der vergangen Monate befürchtet Äthiopiens diktatorische Regierung bei allen grösseren Menschenversammlungen, dass erneut Proteste aufkommen könnten. Die enorme Präsenz von Sicherheitskräften dient einerseits zur Einschüchterung, andererseits kann aufkommende Unruhe im Keim erstickt werden.
Ausserdem herrscht, wie man erahnen kann, jedes Jahr zu dieser Zeit auch wirtschaftlich Hochkonjunktur in Lalibela. Die gesamte Stadt verwandelt sich in einen Markt. Die Strassenränder sind von kleinen Ständen gesäumt, wo man von Sonnenbrillen über traditionelle Gewänder bis hin zu Kreuzen und anderen religiösen Gegenständen alles kaufen kann. Auch die Hotelpreise vervielfachen sich. Ein Einzelzimmer unter 130 $ pro Nacht, was hier einem guten Monatsgehalt entspricht, ist nicht zu finden. Nur die Reichsten können sich solche Preise leisten. Pilger, die keine Verwandten in Lalibela haben, bei denen sie unterkommen können, schlafen in improvisierten Zelten oder gar unter freiem Himmel um die Kirchen herum. Und das, obwohl es in der Nacht sehr kalt wird. Aus diesem Grund plant PBF mit dem Amanuel Pilgrims Village ein Zentrum zu errichten, das medizinische Grundversorgung, Mahlzeiten und Unterschlupf für Bedürftige jeglicher Art und wie der Name schon sagt auch Pilger anbietet.
Bislang muss die Gastfreundschaft, wofür die äthiopische Kultur so bekannt ist, in der Weihnachtszeit der Geschäftstüchtigkeit weichen. Trotzdem ist es eben diese Gastfreundschaft, die mir am meisten in Erinnerung bleiben wird. Auch wenn ich nun nach gut 2 ½ Monaten Lalibela verlasse, bin ich mir sicher, dass ich an diesen Ort wiederkehren werde. Lalibela ist nur im wirtschaftlichen Sinne arm, in allen anderen Belangen, sei es nun Natur oder Kultur, ist Lalibela mehr als reich!